Freitag, 31. Januar 2014

Der Niedergang des Kännchens

Früher war die Welt noch einfach: wollte man ein belebendes und koffeinhaltiges Heißgetränk zu sich nehmen gab es Kaffee. Schlicht und einfach. Es war ein ganz simpler, heute fast schon ordinär wirkender Filterkaffee. Mal mehr, mal weniger stark bzw. gut gebrüht. Der kam dann meist in eine Kaffeetasse oder -sofern man sich auf der Terrasse eines gastronomischen Betriebes befand- zuvor in ein Kännchen. Kännchen habe ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen, geschwiegen denn selbst eines bestellt. "Draußen nur Kännchen!",  der markante Satz, der sich heute als die Keimzelle unserer aktuellen Servicewüste entpuppt, ist lange verklungen. Machen wir uns nichts vor: Das Kännchen ist vom Aussterben bedroht. Es steht auf der Roten Liste und wenn überhaupt gibt nur noch wenige Exemplare der Spezies kannus coffeinus in freier Wildbahn.

Doch wie konnte es soweit kommen? Wie anfangs schon erwähnt gab es früher fast nur Filterkaffee. Zucker und Sahne/Milch waren da noch die einzige Möglichkeit sein Getränk dem eigenen Geschmack anzupassen. Kaffee war Kaffee und damit basta! Apropos basta: vielleicht waren es auch die Italiener, die einen gewissen Lebensstil in die Welt des Kaffees brachten. Ein Hauch dolce vita, der in kleinen Tassen die gerade einmal einen Schluck eher kräftigerem Kaffee fassen zu uns über die Alpen wehte. Der Espresso bildete den Grundstock für den Cappuccino, und damit war dann auch das Maß an koffeiniger Extravaganz erfüllt. Halten wir fest: zu diesem Zeitpunkt gab es Kaffeetassen, Kännchen und die kleine Espressotasse. Es gab eine gewisse Vielfalt in den Getränken die übersichtlich aber abwechslungsreich war: Kaffee in vier Variationen, Espresso und Cappuccino und die Welt war in Ordnung.
Und dann kam die Latte macchiato. Irgendjemandem war der charmante Cappuccino mit seiner kecken Milchschaumhaube wohl nicht mehr gut genug. Oder er hatte beobachtet wie andere Kaffeeliebhaber ihrem großen Glas heißer Milch mit einem Schuss Espresso etwas mehr Schwung verliehen, und war fasziniert von der Idee seinen Cappuccino aus einem Glas zu trinken. Denn Latte macchiato ohne Glas ist unvorstellbar, wie sollte man sonst auch die schönen optischen Effekte der unterschiedlichen Schichten sehen können? Und dann kam der Boom: wer en vogue sein wollte brauchte die Latte als Statussymbol, die unpraktische Tatsache, dass ein Glas kein Henkel hat, der bei einem Heißgetränk als Füllung aber durchaus seinen Sinn hat, wurde einfach ignoriert. Das Glas war in, gerade mit langstieligem Löffel.
Und mit der Sichtbarkeit des Ergebnisses kamen neue experimentelle Formen. Zu den drei Schichten wurde durch Sirup eine vierte unterste Schicht hinzugefügt, und schon waren die aromatisierten Kaffeespezialitäten geboren. Aber warum sich auf eine Zubereitungsart beschränken? Plötzlich gab es eine Vielzahl von Kaffeegetränken auf dem Markt. Alle zu unverschämten Preisen von Kaffeehausketten unter die Menschen gebracht. Ob kalt oder warm. Espresso mit warmgeschäumter Milch, mehr Milch oder noch mehr Milch.
Dies brachte eine neue Gattung von Trinkgefäß: den Togo-Becher. Offensichtlich hatten sich die Kaffeetrinker in den späten 90er Jahren und dem frühen neuen Jahrtausend so sehr an den Schichten ihrer Macchiatos satt gesehen, dass dieses Spektakel gänzlich uninteressant wurde und in Pappbechern oder großen Mugs verschwand, mit höchst fraglichem ökologischem Resultat.
Und das Ergebnis? Kaum einer trinkt noch Filterkaffee. Im Büro und oft auch zuhause stehen Vollautomaten die eine ganze Speisekarte beherrschen. Getrunken wird unterwegs aus Papp- oder wenn immobil aus großen Keramikbechern. Diese neuen Spezies haben das alte Kännchen verdrängt. Und die Untertasse ist ebenso gefährdet. Statt sich die zweieinhalb Tassen nach und nach aus dem Kännchen einzuschänken finden wir heute auf Speisekarten besagte Kaffeehäuser Becher dieser Volumensklasse. Wer kleine Portionen bestellt bekommt ebenfalls einen Becher. Immerhin mit Henkel, ja, aber ohne Untertasse. Praktisch zu tragen mit nur einer Hand.
Dabei verlieren wir nicht nur heute geradezu abstrus und unnötig wirkende Geschirrformen, sondern auch ein großes Stück Trinkkultur. Wer alles in einem Gefäß hat, kann das Momentum des Genusses, das dem Umkippen aus dem Kännchen oder dem Abstellen auf der Untertasse innewohnt, nicht zelebrieren. Das Kaffeetrinken wird zu einer Tätigkeit nebenbei, zu profanem Beiwerk, kurz: es steht nicht mehr im Fokus. Dabei bleibt zweierlei auf der Strecke: der Genuss als solcher und auch wir selber, denn wer sich Zeit für den Genuss nimmt, nimmt sich dabei vor allem Zeit für sich.